Thinktank
Die Akademie möchte den Wissenstransfer direkt mit Themen verknüpfen, die für die Gesellschaft relevant sind bzw. im Diskurs zwischen gesellschaftlichen Gruppen stehen. Um diese Themen aufzugreifen und zu reflektieren, hat der Akademie-Gründer Prof. Dr. med. Oskar Jenni den Thinktank. Für das Kind ins Leben gerufen. Nun ist im Mai 2024 das 250 Seiten umfassende Buch «Kindheit – eine Beruhigung» erschienen, das die elf Mitglieder dieses interdisziplinär besetzten Gremiums gemeinsam verfasst haben.
Das Buch «Kindheit – eine Beruhigung»
Die Kindheit wird in unserer Gesellschaft kontrovers diskutiert: Kinder sollen frühestmöglich gefördert werden, um im Wettbewerb später bestehen zu können. Wie unterschiedlich Kinder sind und wie viele ihrer Fähigkeiten angeboren, gerät dabei aus dem Blick. Kinder, die sich nicht reibungslos einfügen, werden schnell pathologisiert, und es scheint, als bestünde die Kindheit immer mehr aus Gefährdung, Krankheit und Störung.
Viele Eltern fühlen sich unter Druck, perfekte Mütter und Väter von möglichst erfolgreichen Kindern zu sein. Dabei sind sie in vielen Bereichen gefordert: im Umgang mit digitalen Medien, bei Fragen nach optimaler Förderung oder danach, wie viel Freiheit und wie viel Kontrolle ein Kind braucht.
Diese erste gemeinsame Publikation des Thinktank-Gremiums bietet einen Überblick über die vielen Facetten der Kindheit und zugleich eine wissenschaftlich fundierte Orientierung. Es möchte durch seine interdisziplinären Denkanstösse zu einem gelasseneren Umgang mit Kindern beitragen – und zur Beruhigung eines Diskurses, der zwischen Romantisierung und Perfektionierung der Kindheit hin- und herpendelt.
Interview mit Herausgeber Oskar Jenni in der NZZ am Sonntag
Das Gremium
In den Thinktank. Für das Kind werden Expertinnen und Experten berufen, die dem Thema der kindlichen Entwicklung eine grosse Bedeutung beimessen und mit ihrem Wissen sowie ihrer Erfahrung einen wesentlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Diskussion leisten möchten. Die aktuellen Gremiumsmitglieder kommen aus den Disziplinen Anthropologie, Entwicklungspsychologie und -pädiatrie, Erziehungswissenschaft, Ethik und Philosophie, Politologie, Psychologie, Kommunikationswissenschaft und Ökonomie.
«Kinder sind immer Seiende und Werdende. Das sind erwachsene Menschen zwar auch, aber Kinder sind es doch in einer besonderen Weise. In meiner Forschung beschäftigte ich mich vor allem mit der Frage, wie wir Kindern als Seienden begegnen sollten: Wie sollen wir das gegenwärtige Wohl von Kindern gewichten, wenn es mit ihrem zukünftigen Wohl als Erwachsene konfligiert? Was heisst es, die Menschenwürde von Kindern zu respektieren? Behandeln wir Jugendliche zu Recht noch paternalistisch? Auch interessiert mich sehr, was wir als Erwachsene von Kindern lernen können – und denke dabei vor allem über die Bedeutung von Neugier, Offenheit und Fantasie nach, an denen es uns Erwachsenen oft mangelt, die aber für ein gutes und selbstbestimmtes Leben eine wichtige Rolle spielen.»
Dr. phil. Holger Baumann
Philosoph und Bioethiker
Philosophisches Seminar / Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich
«Kinder in die Welt zu bringen, gleicht einem Wagnis: Wir wissen nicht, wie es ausgeht, weder mit dem Kind noch mit der Welt, ja nicht einmal mit uns: Werden wir gute Eltern sein? Wird das Kind ein glückliches Leben haben? Weil Kinder zu bekommen heute oft eine bewusst getroffene Entscheidung ist, werden Eltern ausserdem immer mehr für die perfekten Startchancen ihres Kindes verantwortlich gemacht. Entsprechend gross sind wiederum die elterlichen Erwartungen ans Kind. Zugleich hat jedes Kind ein Recht auf eine offene Zukunft. Wie geht das zusammen?»
Dr. phil. Barbara Bleisch
Philosophin
«Wir Menschen haben eine lange evolutionäre Vergangenheit als Art mit gemeinschaftlicher Jungenaufzucht: ‹It takes a village to raise a child› ist keine moderne Erfindung. Die Konsequenzen davon können wir durch vergleichende Verhaltensbeobachtungen an Affen mit gemeinschaftlicher Jungenaufzucht besser verstehen. Wichtig bei solchen Fakten ist aber, nicht dem naturalistischen Fehlschluss zu verfallen: Aus diesen biologischen Realitäten lassen sich keine normativen Schlussfolgerungen ziehen. Allerdings helfen sie uns, eine Reihe von Verhaltensmustern bei Kindern, aber auch Betreuungspersonen besser einzuordnen.»
Prof. Dr. phil. Judith M. Burkart
Anthropologisches Institut und Museum der Universität Zürich
Head of Evolutionary Cognition Group
«Was brauchen Kinder, um gesund und glücklich aufzuwachsen? Was ist gute Erziehung? Wie kann man die Umwelt der Kinder so gestalten, damit sie sich zu selbstständigen und sozial kompetenten Personen entwickeln? Das sind Fragen, die mich in meiner Forschung und Lehre beschäftigen und auf die ich nach Antworten suche. Aus diesem Grund freue ich mich ausserordentlich, mich im Rahmen dieses Thinktanks über die Grenzen der Disziplinen hinweg austauschen zu dürfen und Antworten auf die gestellten Fragen sowie viele andere zu finden.»
Prof. Dr. phil. Moritz Daum
Lehrstuhl Entwicklungspsychologie: Säuglings- und Kindesalter
Psychologisches Institut
Universität Zürich
«Aus ökonomischer Sicht wird immer mehr klar, dass viele grundlegende Faktoren für das langfristige Wohlergehen von Menschen in der frühen Kindheit vorprogrammiert werden. Was das Kind für eine gesunde Entwicklung aber wirklich braucht, ist eine sehr komplexe Frage, die meiner Meinung nach am besten interdisziplinär beantwortet werden kann.»
Prof. Dr. oec. Günther Fink
Head, Household Economics and Health, System Research Unit
Swiss Tropical and Public Health Institute
Eckenstein-Geigy Professor of Epidemiology & Household Economics
University of Basel
«Als Politikwissenschaftlerin interessiere ich mich dafür, welche Anliegen von Kindern und Jugendlichen in der Gesellschaft Gehör finden, mit welchen anderen Interessen sie konkurrieren und mit welchen Mitteln Politik und Gesellschaft Kindern ein gutes Entwicklungsumfeld schaffen können. Soziale Ungleichheiten zwischen Kindern, fehlende Chancengerechtigkeit und die Kurzsichtigkeit demokratischer Politik sind notorische Schwächen unserer Gesellschaft, die viele Heranwachsende langfristig negativ betreffen und hohe gesamtgesellschaftliche Kosten haben. In unserem Thinktank lerne ich viel über die Bedürfnisse junger Menschen und bringe meine Kenntnisse von Politik und Institutionen ein, um gemeinsam auf Lösungen für eine kinder- und zukunftsfreundlichere Gesellschaft hinzuarbeiten.»
Prof. Dr. phil. Silja Häusermann
Lehrstuhl Schweizer Politik und Vergleichende Politische Ökonomie
Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich
«Der Wandel von Wertvorstellungen hat zu veränderten Ansprüchen der Gesellschaft an das Kind geführt. Zudem wurde der Zukunftsoptimismus der Nachkriegszeit von einer grossen Zukunftsangst und Verunsicherung verdrängt. In dieser liegen die Gründe für die gesellschaftliche Debatte darüber, was das Beste für das Kind ist: Welche Erziehung ist optimal? Sind die Kinder genügend auf das Leben vorbereitet? Lernen die Kinder das Richtige? Der Thinktank als interdisziplinär besetztes Gremium will einen wesentlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Diskussion rund um das Kind leisten.»
Prof. Dr. med. Oskar Jenni
Gründer des Thinktank. Für das Kind
Leiter der Akademie. Für das Kind
Leiter Abteilung Entwicklungspädiatrie des Universitäts-Kinderspitals Zürich
«Erziehung ist die Einführung in ein unvollkommenes Leben und eine problematische Welt. Wer mit Kindern und Jugendlichen lebt, sie unterstützt, anleitet und fördert, macht die Erfahrung, dass auch diese Einführung selbst unvollkommen bleiben muss und problematisch sein kann. In der elementaren Begrenztheit der Möglichkeiten von Erziehung und Bildung – und seien sie von gutem Willen begleitet – steckt der humane Kern, der auf Grösseres und Bedeutungsvolles verweist, auch wenn sich dieses nicht definieren lässt.»
Prof. Dr. phil. Roland Reichenbach
Lehrstuhl Allgemeine Erziehungswissenschaft
Institut für Erziehungswissenschaft
Universität Zürich
«Wie die Lebenswelt verändert sich auch die Kind- und Jugendzeit stetig. Um zu verstehen, was heutige Kinder und Jugendliche brauchen, um ihre Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, braucht es Dialog, Austausch und Zeit. Wir im Thinktank-Gremium sehen uns gemeinsam in der Verantwortung, interdisziplinär Fragen nach kindlicher Entwicklung zu stellen und mögliche Antworten zu formulieren. Als Lehrer, Schulleiter und Dozent versuche ich, Kinder auf der Basis einer verlässlichen Beziehung zum Denken zu verlocken und ihren je eigenen Ausdruck zu finden.»
Prof. (ZFH) Dieter Rüttimann
Schulleiter Gesamtschule Unterstrass, Zürich
Dozent am Institut Unterstrass, Zürich
«Als Psychologin beschäftigen mich Fragen nach verschiedenen Beiträgen zum Lebensverlauf eines Menschen. Für Wohlbefinden und Gedeihen braucht ein Kind Fürsorge, Zuwendung und Anregung. Von Anfang an gestaltet es jedoch sein Umfeld und darin seine Beziehungen aktiv mit. Die Auseinandersetzung mit der inneren und äusseren Welt ist der Beitrag zur eigenen Entwicklung. Bezugspersonen und Gemeinschaften eröffnen und begrenzen den Entwicklungshorizont. Als Erwachsene begleiten wir Kinder eine Wegstrecke und entlassen sie in eine Zukunft, die wir nicht mehr mit ihnen teilen werden. Biografien entfalten sich im Zeitverlauf und lösen sich darin ab. Was bedeutet das für das Verhältnis zwischen Generationen und Gesellschaften?»
Dr. phil. Heidi Simoni
ehem. Direktorin Marie Meierhofer Institut für das Kind, Zürich
«Kinder werden heute in eine digitalisierte Mediengesellschaft hineingeboren. Ich frage in Lehre und Forschung, was es braucht, damit sich Kinder unter diesen Bedingungen positiv entwickeln können. Dabei nehme ich die ganze Lebenswelt der Kinder und ihrer Bezugspersonen in den Blick, um die Rolle des Medienumganges zu verstehen. Medien können Ressourcen und Risiken zugleich sein – je nachdem, wie man sie nutzt. Unsere Aufgabe ist es, Kinder in ihrer Selbst-, Sozial- und Medienkompetenz zu unterstützen.»
Prof. Dr. phil. Daniel Süss
Professor für Medienpsychologie an der ZHAW
Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Zürich